Die Zeit rennt im Kampf gegen Corona davon – und nicht nur, weil die Fallzahlen explodieren. Die künftige Ampel-Koalition will „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ auslaufen lassen, und muss deshalb schnell ein neues Gesetz schreiben. Denn sonst gilt in einer Woche mitten in der Pandemie gar nicht mehr. Doch Experten prognostizieren bereits, dass der neue Maßnahmenkatalog nicht reichen wird.
"Wir sind in Bayern seit letzter Woche dabei, Patienten in andere Krankenhäuser zu verlegen, weit weg von ihrem Wohnort, teilweise sogar ins Ausland, weil Intensivstationen überbelegt sind", sagt Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie in der München-Klinik Schwabing. 2020 hat er den ersten Covid-19-Patienten Deutschlands behandelt. 2020 war es auch, als Deutschland Coronakranke aus Italien aufgenommen hat, weil die Krankenhäuser in Bergamo sie nicht mehr behandeln konnten.
Jetzt hat sich der Spieß umgedeht, erste Kollegen würden bereits deutsche Coronapatienten nach Südtirol bringen lassen, berichtet Wendtner dem "Spiegel". Bei über 300 liegt die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz schon, in einigen Gebieten Deutschlands sogar weit darüber. Und bis jetzt kam aus der Politik noch keine Maßnahme, die die vierte Wellen stoppen könnte.
2G und 3G könnten nicht reichen
Tatsächlich wirkt es sogar, als sende die künftige Ampel-Koalition gegenteilige Signale. Denn die "epidemische Lage von nationaler Tragweite" wollen SPD, Grüne und FDP zum 25. November auslaufen lassen. Die Feststellung dieser Notlage durch den Bundestag war bisher die Voraussetzung für die scharfen Corona-Maßnahmen, etwa das Schließen von Geschäften oder das Verbot von Veranstaltungen.
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Als Ersatz soll künftig ein Maßnahmenkatalog im Infektionsschutzgesetz dienen. Neben den bisher schon geltenden Abstandsgeboten, der Maskenpflicht und der erneuten Homeoffice-Pflicht soll es auch folgende verschärfte Regeln geben:
- 3G am Arbeitsplatz und in Bussen und Bahnen
- 2G und 2G plus Test für Geimpfte, etwa für Veranstaltungen
- Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte
- tägliche Testpflicht in Alten- und Pflegeheimen
Doch eines ist explizit nicht mehr geplant: ein Lockdown für alle.
Intensivstationen stehen vor dem Kollaps
Experten aus unterschiedlichen Wissensgebieten zeigen sich darüber alarmiert. "Dass Lockdown und Ausgangssperren für die Politik ein solches Tabuthema sind, ist infektiologisch irrational", sagt Wendtner dem "Spiegel". "Ich sehe kein anderes probates Mittel, was jetzt in dieser Situation schnell helfen könnte."
Denn noch immer sind etwa 14 Prozent der Über-60-Jährigen in Deutschland ungeimpft. Etwa 270.000 Corona-Patienten könnten bei einer vollständigen Durchseuchung der Bevölkerung intensivpflichtig werden, errechnete Christian Karagiannidis, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin – dabei würde schon ein Bruchteil davon reichen, um das Gesundheitssystem kollabieren zu lassen.
Experten fordern Lockdown – auch für Geimpfte und Genesene
Bei einer Expertenanhörung im Bundestag am Montag erklärte auch die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut, dass der derzeit geplante Maßnahmenkatalog der Ampel "nicht reichen wird, um die Fallzahlen runterzubringen". Wenn man jedoch "alle Register" der Coronabekämpfung vom letzten Jahr ziehe und den R-Wert (der angibt, wie viele andere Menschen ein Infizierter im Durchschnitt jeweils ansteckt) auf 0,7 senke, so Priesemann, könne man mit nur zwei Wochen harter Maßnahmen die Belegung der Intensivstationen um rund 30 Prozent reduzieren.
Viele Experten sprechen sich dagegen aus, Lockdown-Maßnahmen für Geimpfte und Genesene von vorneherein auszuschließen. Er galt in der Pandemie bisher als letzte Notbremse, um die Fallzahlen zu senken und die Krankenhäuser vor dem Kollaps zu bewahren. Der Virologe Christian Drosten sagte bei der Anhörung im Bundestag ebenfalls, ein "zusätzlicher Schutzschild" zu den Maßnahmen sei nötig. Und der "laufe über die Freiheit, sich zu treffen".
"Wir sind mitten in einer Notlage"
Kritik gibt es auch dafür, die epidemische Notlage überhaupt auslaufen zu lassen. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek, zugleich Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz, sagte dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland": "Dass die Ampel-Parteien am Ende der epidemischen Lage festhalten wollen, ist für mich nach wie vor unerklärlich." Das passe nicht zusammen, so Holetschek. "Die Zahlen steigen rasant. Die Intensivstationen laufen voll. Unser Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Damit ist klar: Wir sind mitten in einer Notlage."
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